The Army of Love

INGO NIERMANN
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Wir stellen uns unsere Liebe gerne als sehr persönliche Angelegenheit vor, doch sie folgt statistischen Präferenzen. In jeder Gesellschaft werden bestimmte Merkmale als attraktiver empfunden als andere. Jemandem, der dabei unter dem Durchschnitt liegt, zu sagen, wir seien alle schön, ist so, als würde man jemandem, der arm ist, sagen, Geld spiele keine Rolle. Es ist ignorant, wenn nicht zynisch. Hier kommt nun der Komplettismus in Spiel. Der Komplettismus strebt nach einer intimen Komplettierung der Gerechtigkeit. Die Army of Love praktiziert diesen Komplettismus und bietet jedem, der sie braucht, allumfassende, sinnliche Liebe – Fürsorge, Begehren, Sex und Respekt. Lesen Sie, wie die Army of Love im Begriff ist, den Verlauf nicht nur der menschlichen Geschichte zu verändern.

ROMANTIK KOMPLETT
Der Kapitalismus hat romantische Liebe dermaßen kommerzialisiert, dass wahre romantische Transgression an dem einzigen dem Wohlfahrtsstaat innewohnenden Tabu rührt: Gewalt. Wer sich lieber als einsamer Wolf sieht, wählt den Amoklauf, wer den Anschluss an eine Gruppe sucht, wird Hooligan oder Extremist.

Aber was bleibt denjenigen von uns, die gut sein wollen, ohne als schreckliche Langweiler zu gelten? Wie können wir ebenso drastische Übertretungen begehen, die eindeutig gut sind? Das ist nur durch Liebe möglich – eben die überwältigende Liebe, die schon die Romantiker priesen und die nie erfüllt wurde. Auch wenn unsere Gesellschaft sich als hedonistisch versteht, wird die Libido eines großen Teils der Bevölkerung durch Psychopharmaka gedämpft. Menschen, die nicht genug Liebe finden, sollen ihrer Erziehung die Schuld geben. Warum schenkt man ihnen nicht einfach Liebe?

Die heutigen Wohlfahrtsstaaten lassen den meisten von uns genügend Zeit und Muße, um uns nicht nur wie die Hippies der Liebe zu öffnen, sondern systematisch in ihr zu drillen und zu einer Liebe zu finden, die sich nicht nur auf eine Person, eine Familie, eine Gruppe oder ein Volk bezieht, sondern auf jeden. Eine Liebe, die bewirkt, dass wir auf der Straße nicht nur „Free Hugs“ verteilen, sondern auch „Free Petting“, und einander bestaunen. Die bewirkt, dass wir unseren Nächsten mehr als nur Sympathie entgegenbringen und dass unser Wunsch nach Liebe – einschließlich sinnlicher Liebe – sich immer und überall magisch erfüllt. Auch die brutalste Gewalt erweist sich angesichts der kompletten Liebe der Army of Love als nicht radikal genug.

Nur wer hungert, kann den anderen für einen Laib Brot lieben.

FÜRSORGE KOMPLETT
Bei steigendem materiellem Wohlstand und zunehmender Freizeit wächst das Bedürfnis nach Intimität und physischer Liebe. Die Ehe wird immer weniger als bindend empfunden, und während wir nach neuen und besseren Geliebten suchen, haben diejenigen, die wir als alt, hässlich, behindert oder erfolglos diskriminieren, das Nachsehen. Sex ist käuflich, aber sinnliche Liebe ist in einer wohlhabenden Gesellschaft fast unerschwinglich. Nur wer hungert, kann den anderen für einen Laib Brot lieben.

Im Kampf des Sozialismus gegen ungleiche Eigentumsverhältnisse blieb die ungleiche Verteilung von Attraktivität unbeachtet: In einer gewaltfreien Gesellschaft ohne privates Eigentum hat jeder Zugang zu Waren des täglichen Bedarfs, aber von den ersehnten Sex- und Liebespartnern braucht man immer noch ihr Einverständnis. Die Hippies haben in der Nachfolge von Charles Fourier angenommen, dass Sex und Liebe nur aus dem Gefängnis der Monogamie befreit werden müssten, um zu blühen und zu gedeihen und für alle im Überfluss da zu sein. Doch der Verzicht auf libidinöse Besitzansprüche mag uns von der Treue entbinden, nicht aber von den ästhetischen, intellektuellen und charakterlichen Ansprüchen an unsere Partner. Freie Liebe ist letztlich nichts anderes als die Ausdehnung des Liberalismus auf das Intimleben.

Eine komplette Liebe unserer Nächsten verlangt mehr Überwindung als die gewöhnliche Nächstenliebe. Doch sie belohnt uns auch mit außergewöhnlichsten Erfahrungen und tiefster Dankbarkeit. Und nur dann wird eine Wohlfahrtsgesellschaft dem Anspruch auf umfassende Gerechtigkeit für alle genügen. Das fördert ihre Akzeptanz – sowohl auf der Seite derer, die nehmen, wie auf der Seite derer, die geben.

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HINGABE KOMPLETT
Die Army of Love ist eine Armee im ursprünglichen Sinn. In einer Zeit, in der Gewalt zunehmend geächtet ist, wird Liebe zur mächtigsten Waffe – eine Waffe, die auch gefährlich sein und sogar Menschen töten kann.

Um im komplettistischen Sinn zu lieben, ohne Schaden anzurichten, müssen wir lernen, die wirklich Bedürftigen von denen zu unterscheiden, die einfach gerne allein sind oder nur vorübergehend an Liebeskummer leiden. Wir müssen ihnen die Gewissheit geben, dass es sich nicht bloß um einen üblen Scherz, eine Finte oder einen obskuren Fetisch handelt. Wir müssen sie beständig lieben und begehren und auch ihre Liebe und ihr Begehren wecken, ohne dass jemand sich so auf die andere Person fixiert, dass es unmöglich wird, den Liebesdienst bei Umzug, Krankheit oder anderen Problemen auf einen anderen Komplettisten zu übertragen.

Deshalb brauchen wir das Regime einer Armee und auch ihre Insignien, vielleicht sogar Rangzeichen und Orden. Wer seinen Soldaten liebt und ihm traut, wird bis zu einem gewissen Grad immer die Armee als Ganzes lieben. Liebt der Soldat den Bedürftigen, sieht man nicht nur ihn, sondern ein ganzes Regiment schöner, wollüstiger, offener Menschen Gutes tun. Stipendien ermöglichen jungen Menschen, nach Abschluss der Schule – wenn ihre Attraktivität, Potenz und Neugier am höchsten sind – ein Soziales Jahr bei der Army of Love zu absolvieren. Doch die Army of Love rekrutiert auch diejenigen, denen sie gedient hat. Der beste Weg, um eine dauernde Abhängigkeit von ihren Diensten zu vermeiden, ist, zu trainieren, um selbst Teil der Armee zu werden. Auch wer Alter und Erscheinung nach gemeinhin nicht als attraktiv angesehen wird, kann für spezielle Fälle perfekt geeignet sein.

MITGEFÜHL KOMPLETT 
Komplettistische Liebe ist das Gegenteil von regressiv. Anders als bei der freien Liebe geht es darum, ausgerechnet diejenigen zu lieben, zu denen wir uns bisher nicht hingezogen fühlen, und wir müssen uns drillen, um diese Liebe zu erbringen. Statt gegen Gefühle anzukämpfen, kann Gewöhnung sie – die gewünschte Liebe – überhaupt erst erzeugen, während Hass immer weniger zu entschuldigen ist. Wir lernen von Sexarbeitern, den anderen zu begehren, indem wir sie oder ihn dazu bringen, uns zu begehren und damit unsere Selbstliebe befriedigen. Wenn wir es allein nicht schaffen, können wir uns auch mit Substanzen wie MDMA (stärkere Anziehungskraft), Oxytocin (stärkere Bindung) und Viagra (stärkere Erektion) helfen.

Weil unser aller Sehnen nach Liebe umgehend gestillt wird, nehmen Eifersucht und Hass immer weniger Raum ein. An ihren Platz tritt Mitfreude: Freude darüber, dass der andere mehr Liebe findet als nur unsere. Wir lieben einander nicht deshalb, weil wir verzweifelt sind. Wir suchen nach einer sehr besonderen Liebe, weil wir eigentlich genau dafür geschaffen sind, und wir können sie finden, ohne darauf zu bestehen, dass sie erwidert wird. Sinnliche Nächstenliebe impliziert keinen neuen humanistischen Essenzialismus. Im Gegenteil: Die Ausdehnung sexueller Liebe auf Menschen, die nicht unseren gewohnten Maßstäben entsprechen, ist nur der erste Schritt hin zu gänzlich uneingeschränktem Begehren und Sex, auch über Artgrenzen hinweg.

Wer seinen Soldaten liebt und ihm traut, wird bis zu einem gewissen Grad immer die Armee als Ganzes lieben.

VERWIRKLICHUNG KOMPLETT 
Die Army of Love wird von verschiedenen Motiven angetrieben.

Ideologische Motive: Gerechtigkeit, denn es reicht nicht, nur Geld und die Möglichkeiten, Geld zu verdienen, umzuverteilen; man muss auch die Aussichten, geliebt zu werden, umverteilen. Nächstenliebe, denn man empfindet es als seltsam und unzureichend, dass im Christentum und in anderen Religionen die „Liebe zum Nächsten“ jede sinnliche Liebesbekundung ausschließt. Antifaschismus, denn die allgemeinen Schönheitspräferenzen in westlichen Gesellschaften sind weitgehend dieselben wie im Faschismus. Antikonsumismus und Antikapitalismus, denn die, die mehr Geld haben, sollen nicht auch noch mehr geliebt werden. Kommunismus, denn er ist in seinen früheren Ausprägungen gescheitert, weil er allein materielle Güter vergesellschaftet hat. Kommunitarismus und Anarchismus, denn die komplettistische Praxis macht sowohl die Mitglieder der Army of Love als auch die Empfänger ihrer Liebe weniger eifersüchtig, weniger hasserfüllt, weniger materialistisch, dafür aber vertrauensvoller und gro.zügiger. Umweltbewusstsein und Transhumanismus, denn die Liebe zu missachteten Menschen ist ein Schritt hin zur Liebe zu nichtmenschlichen Wesen.

Persönliche Motive: Manche Liebessoldaten waren Menschen ausgesetzt, die sich allzu leicht in sie verliebten, und sie möchten lernen zurückzugeben. Manche Liebessoldaten verlieben sich leicht, doch meistens in Menschen, die bereits genug geliebt werden oder die physisch zu lieben missbräuchlich wäre, und diese Soldaten möchten ihre Liebe denjenigen entgegenbringen, die sie brauchen. Manche Liebessoldaten haben bereits Präferenzen, die sie Menschen lieben lässt, denen Liebe häufig fehlt, aber diese Präferenzen werden als Perversionen diskriminiert, und sie möchten, dass sie als etwas Gutes respektiert werden. Manche Liebessoldaten suchen einfach nach dem nächsten großen Abenteuer, der nächsten großen Grenzüberschreitung.

Komplettistische Liebe ist das Gegenteil von regressiv. Anders als bei der freien Liebe geht es darum, ausgerechnet diejenigen zu lieben, zu denen wir uns bisher nicht hingezogen fühlen, und wir müssen uns drillen, um diese Liebe zu erbringen.

KONTROVERSE KOMPLETT
Soll die Army of Love eine Bewegung sein, ein Orden, eine Loge, eine Sekte, eine Guerillaorganisation, eine Nichtregierungsorganisation oder ein Pflichtdienst für all diejenigen, die als hoch attraktiv eingestuft werden? Soll so lange wie möglich offen bleiben, welchen Charakter die Army of Love annimmt, um zunächst Erfahrungen zu sammeln und an Dynamik zu gewinnen, oder soll sie so bald wie möglich institutionalisiert werden, um zu vermeiden, dass sie sich in Missverständnissen und Missbrauch verstrickt?

Wie sollen, da der Bedarf an Liebe unter den mehr als sieben Milliarden Menschen auf der Welt enorm ist, diejenigen ausgewählt werden, denen die Army of Love als erstes dient? Soll die Army of Love sich auf Menschen konzentrieren, die wegen niedrigen Einkommens, geringer Bildung, hohen Alters, Krankheit oder Behinderung allgemein diskriminiert werden, oder würde das weitere, wenn auch positive Diskriminierung bedeuten? Würde es die allgemeine Ungerechtigkeit nur noch unerträglicher machen, wenn man den von der Gesellschaft Vernachlässigten Liebe zuteil werden lässt? Aus utilitaristischer Perspektive könnte es effektiver sein, den allgemein Privilegierten Liebe zu schenken, weil es sie gro.zügiger machen könnte, aber es wäre ungerecht.

Müssten potenzielle Bedrohungen für die Army of Love – Misogyne, Rassisten, Vergewaltiger – von ihren Diensten ausgeschlossen werden, oder ist es gerade der Mangel an umfassender Liebe, der sie überhaupt erst grausam werden lässt? Sollte die Army of Love ihre Liebe so ausdrücken, dass sie das Einverständnis der meisten Menschen findet, oder sollte sie sich, um den persönlichen Bedürfnissen der Empfänger zu entsprechen, auch an Praktiken und Rollenspielen beteiligen, die bei einer Mehrheit Anstoß erregen würden? Sollte die Army of Love nur denjenigen dienen, die sie um Hilfe bitten, oder sollte sie die Menschen aussuchen, die am bedürftigsten sind? Wie geht man mit Menschen um, die behaupten, bedürftig zu sein, aber die Dienste der Army of Love einfach nur bequemer finden als echte Liebe? Wie geht man mit Menschen um, die offensichtlich bedürftig sind, aber keine Hilfe annehmen wollen? Ist es legitim, wenn die Army of Love ähnlich wie die Romeo-Spione des Kalten Krieges im Geheimen agiert, um dem Stigma von karitativer Arbeit zu entgehen?

AKTION KOMPLETT
Weitere Informationen finden Sie unter www.thearmyoflove.net. Schließen Sie sich jetzt der Army of Love an!

INGO NIERMANN ist Schriftsteller und Herausgeber der Buchreihe Solution (Sternberg Press). Die Army of Love geht zurück auf s ein Buch Drill Nation (2015), in dem ein vereintes Korea als neuer Modellstaat einer Wohlstandsgesellschaft imaginiert wird. Für die 9. Berlin Biennale hat er gemeinsam mit der Filmemacherin Alexa Karolinski das Video Army of Love (2016) in einem Berliner Spa gedreht. Die Army of Love manifestiert sich des Weiteren in seinem Roman Complete Love, seiner Zusammenarbeit mit Dora García für die Wiesbaden Biennale, und in einem Architekturentwurf in Zusammenarbeit mit Martti Kalliala für die Ausstellung 1000 m2 of Desire im CCCB in Barcelona (alles im Jahr 2016).

ABBILDUNGEN: Alexa Karolinski/Ingo Niermann, Army of Love, 2016, Werbung