Das Internet wird häufig als Ort des „immateriellen“ Informationsflusses beschrieben. Als Medium des Informationsflusses ist es jedoch materiell. Es besteht aus einer bestimmten Anzahl von Kabeln, Rechnern, Mobiltelefonen und anderen technischen Apparaten. Information, die das Internet durchläuft, hinterlässt materielle Spuren. Computer vergessen nicht, wie man weiß. Jede einmal gelöschte Information kann wiederhergestellt werden. Anders als der Fluss der Zeit ist der Informationsfluss reversibel. Man könnte sagen, dass sich mit dem Internet der alte Traum manifestiert, der am Ende von Richard Wagners Parsifal eine berühmte Formulierung gefunden hat: „Zum Raum wird hier die Zeit.“ Das Internet bietet also das Versprechen eines kollektiven Gedächtnisses – und zwar für die ganze Menschheit. Alles, was ins Internet eingespeist wird, wird allgemein zugänglich und bleibt es zumindest potenziell für unabsehbar lange Zeit. Informationen über bestimmte Dinge aufzubewahren, ist natürlich nicht das Gleiche wie die Aufbewahrung der Dinge selbst.
Virtuelle Depots für Kunstabbildungen sind viel kompakter und viel günstiger im Unterhalt als zum Beispiel herkömmliche Kunstmuseen. Dies gilt auch für Verlage, die in ihrem Programm die elektronischen Veröffentlichungen ständig ausweiten. Und dies gilt auch für die Websites einzelner Künstler – auf denen man die umfassendste Darstellung ihrer Tätigkeiten findet. Bei einem Atelierbesuch bekommt man heute meistens Folgendes zu sehen: Die Künstler stellen ihren Laptop auf den Tisch und führen die Dokumentation ihrer Tätigkeiten vor. Das Internet ermöglicht dem Autor somit, seine Kunst fast jedem überall auf der Welt zugänglich zu machen.
Das Internet führt zur Globalisierung des Autors, der Person des Autors. Ich meine damit nicht das fiktionale auktoriale Subjekt, welches das Kunstwerk vorgeblich mit individuellen Intentionen und Meinungen auflädt, die dann hermeneutisch zu entziffern und offenzulegen sind. Dieses auktoriale Subjekt ist bereits dekonstruiert und schon viele Male für tot erklärt worden. Ich meine die wirkliche, in der Offline-Realität existierende Person, auf die sich die Internetdaten beziehen. Dieser Autor nutzt das Internet nicht nur, um Romane zu schreiben oder Kunst zu produzieren, sondern auch um Tickets zu kaufen, Restaurantreservierungen vorzunehmen und seine Geschäfte zu führen. All diese Aktivitäten finden in ein und demselben integralen Raum des Internets statt, und allesamt sind sie potenziell zugänglich für andere Internetnutzer.
Wie andere Einzelpersonen oder Organisationen auch, versuchen Autoren natürlich, dieser totalen Sichtbarkeit zu entkommen, indem sie ausgeklügelte Passwort- und Datenschutzsysteme kreieren. Heute ist Subjektivität zu einem technischen Konstrukt geworden; das zeitgenössische Subjekt definiert sich als Besitzer von Passwörtern, die nur ihr oder ihm bekannt sind, anderen Leuten aber nicht. Das zeitgenössische Subjekt ist in erster Linie ein Geheimnisträger. Dies entspricht in gewisser Weise einer sehr traditionellen Definition des Subjekts, das gerade deswegen als Subjekt gilt, weil es etwas über sich weiß, das sonst nur Gott allein weiß, Dritte aber nicht wissen können, da sie ontologisch außerstande sind, anderer Leute Gedanken zu lesen. Heute haben wir es nicht mit ontologisch, sondern mit technisch geschützten Geheimnissen zu tun. Das Internet ist der Ort, an dem das Subjekt ursprünglich – als transparentes, beobachtbares Subjekt – konfiguriert und dann zunehmend technisch geschützt wird, um das ursprünglich offengelegte Geheimnis zu verbergen. Jeder technische Schutz kann jedoch durchbrochen werden. Heute wird die Hermeneutik von Hackern erledigt. Das derzeitige Internet ist ein Ort von Cyber-Kriegen, deren Trophäe das Geheimnis ist. Das Geheimnis zu kennen heißt, das durch sein Geheimnis konstituierte Subjekt unter Kontrolle zu bringen. Die Cyber-Kriege sind Kriege der Subjektivierung und Entsubjektivierung, die sich nur entfalten können, weil das Internet für jeden Nutzer den ursprünglichen Raum der Transparenz und Referenzialität darstellt. Was aber hat es mit dem Internet als materiellem Gegenstand auf sich?
Das Internet scheint tatsächlich viel weniger immateriell zu sein als frühere Träger von Kommunikation und Gedächtnis. Als Beispiel dafür dient die traditionelle Post. Ein Brief kann in einer ins Meer geworfenen Flasche versendet oder von eigens trainierten Tauben transportiert werden. Obwohl es sich hierbei um eher außergewöhnliche Fälle handelt, illustrieren sie doch zur Genüge den Unterschied zwischen herkömmlicher Post und E-Mail. Mit der von dem politischen Denker Carl Schmitt eingeführten Terminologie lässt sich sagen, dass die traditionelle Post dem Nomos des Meeres unterliegt – und die E-Mail dem Nomos der Erde.¹ Die von der traditionellen Post genommene Strecke zwischen Sender und Empfänger war nie klar definiert; sie war vom Zufall und von den persönlichen Entscheidungen des verantwortlichen Überbringers der Botschaft abhängig. Diese Entscheidungen konnten auch fehlgehen, und der Brief war dann unwiederbringlich verloren. E-Mails werden hingegen nicht von Individuen transportiert, sondern über Kanäle und Internetbetreiber, die über fixe Trajektorien verfügen. Das Internet ist in die Erde eingeschrieben – und unterliegt ihrem Schicksal – in einer weit radikaleren Weise als alle anderen Medien in vorangegangenen Perioden der Kommunikationsgeschichte. Die aktuelle Globalisierungsphase, die auf dem Internet als Leitmedium beruht, scheint daher verletzlicher und anfälliger zu sein als frühere Phasen. Kriege und Katastrophen haben in der Vergangenheit viele Zivilisationen zerstört, aber zahlreiche Kunstwerke, Texte und Dokumente haben überlebt, gerade weil sie an ungewöhnlichen Orten aufbewahrt wurden und zufällig der Zerstörung entgingen. Die Erde selbst ist ein riesiges Museum, wie die archäologischen Ausgrabungen zeigen. Sollte das Internet als Ganzes zusammenbrechen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Nachrichten gerettet werden können, gering. Und selbst wenn einige Daten gerettet werden sollten, wäre es schwierig zu verstehen, auf welche Realität sie Bezug nehmen. In diesem Fall würde die Hardware des Internets ohne seine Information ästhetisiert werden – wie die römischen Aquädukte heute, in denen kein Wasser mehr fließt.
Das ist einer der Gründe, warum die Angst vor kosmischen Katastrophen in der heutigen Kultur so weit verbreitet ist. In der Moderne haben wir den Menschen gewöhnlich verstanden als durch das soziale Milieu bestimmt, in dem er lebt, als Knoten sozialer Netzwerke und als lebendigen, von seiner Umgebung abhängigen Organismus. In der Zeit der Globalisierung haben wir lernen müssen, dass wir von allem, was auf dem Planeten politisch, ökonomisch und ökologisch vorgeht, abhängig sind. Der Planet Erde ist allerdings im Universum nicht isoliert. Er ist beeinflusst von den Vorgängen im Weltraum: dunkle Materie, Wellen und Teilchen, Sternenexplosionen und galaktische Implosionen. Somit hängt auch das Schicksal der Menschheit von diesen Vorgängen ab, denn all die kosmischen Strahlungen und Partikel durchdringen unseres Körper. Die Position der Erde im kosmischen Ganzen bestimmt die Bedingungen, unter denen Organismen auf ihrer Oberfläche überleben können.
Die Abhängigkeit der Menschheit von unbekannten und unkontrollierbaren kosmischen Ereignissen ist die Quelle einer spezifisch modernen Form der Angst. Nennen wir sie kosmische Angst. Während des Kalten Krieges fürchteten die Menschen das Potenzial des Atomkriegs, unsere Zivilisation zur Gänze zu zerstören. Heute scheint die Möglichkeit eines kollektiven Selbstmords des Menschen fern genug. Sie hat jedoch verschiedene psychologische Traumata als Erbe hinterlassen. Der Fortschritt in eine strahlende Zukunft scheint nicht mehr gewährleistet. Es ist kein Zufall, dass die aktuelle Massenkultur von Visionen besessen ist, in denen Asteroiden aus dem Dunkel des Weltraums kommen und die Erde zerstören. Eine derartige Angst kann auch subtilere Formen annehmen. So behauptet etwa Georges Batailles Theorie des „verfemten Teils“², dass die Sonne stets mehr Energie auf die Erde sendet, als diese und die auf ihr lebenden Organismen absorbieren können. Nach all den Mühen, die dafür aufgewendet wurden, diese Energie für die Güterproduktion und einen höheren, der Bevölkerung zugute kommenden Lebensstandard zu nutzen, bleibt ein nicht absorbierter, nicht verwendeter Rest dieser Solarenergie übrig. Diese überschüssige Energie ist von Natur aus zerstörerisch – sie kann nur durch Gewalt und Krieg abgebaut werden, oder durch ekstatische Festivals und Sexorgien, welche die verbleibende Energie kanalisieren und in weniger gefährlichen Tätigkeiten absorbieren. So sind Kultur und Politik – auf immer zwischen Ordnung und Unordnung schwankend – von kosmischen Energien bestimmt.
Heute wird die Hermeneutik von Hackern erledigt.
Friedrich Nietzsche hat unsere materielle Welt als Ort des ewigen Kampfes zwischen apollinischen und dionysischen Kräften, zwischen Kosmos und Chaos, beschrieben. Auf diesen Kampf gibt es zwei Antworten: die ekstatische Bejahung des Chaos oder der Versuch, den Kosmos zu kontrollieren und damit seinen Sieg über das Chaos zu sichern. Bei Ersterem gilt es das Chaos als Chance zu feiern, die Intensität des Lebens zu erfahren, anstatt lediglich Informationen über das Leben zu konsumieren – es ist eine Rückkehr zur reinen Gegenwart, ein Wiedereinstieg in den irreversiblen Fluss der Zeit. Eine solche Option ist verführerisch, denn sie spricht die vitalen Kräfte an, die in den Körpern der vor Computern sitzenden Internetnutzer nicht aktiviert werden. Sie ist auch für Künstler reizvoll, denn das Chaos erlaubt ihnen, aus der Gefangenschaft bestimmter kultureller Identitäten und regionaler politischer Ordnungen auszubrechen und den Weg universeller Anarchie einzuschlagen.
Das Mittel zur Kontrolle über die unkontrollierte universelle Zerstörung hingegen ist der universelle Staat – der umfassende Sieg der apollinischen Ordnung. Unsere Zeit wird oft als posthistorisch oder sogar posthuman bezeichnet. Die beiden Charakterisierungen haben ihren Ursprung in den Vorlesungen über Georg Wilhelm Friedrich Hegels Phänomenologie des Geistes (1807), die der Philosoph Alexandre Kojève von 1933 bis 1939 an der École des hautes études in Paris gehalten hat.³ Für Kojève bedeutet das Ende der Geschichte nicht nur ökonomische und informationelle, sondern auch politische Globalisierung. Vom Kojèveschen Standpunkt aus gesehen sind wir noch nicht gänzlich posthistorisch oder posthuman. Posthistorisch werden wir erst sein, wenn wir in einem universellen und homogenen Staat leben, der alles dafür tut, unser persönliches und gesellschaftliches Überleben sicherzustellen. Nur ein derartiger Staat könnte die Technologie entwickeln, die in der Lage wäre, uns vor kosmischen Katastrophen zu bewahren. Aus heutiger Sicht erscheint ein solcher Staat noch als Utopie. Man könnte jedoch behaupten, dass die aktuelle Kunstwelt das Fehlen eines universellen Staates wettzumachen versucht. Man sollte sich daran erinnern, dass Kojève nicht nur ein Anhänger Hegels war, sondern auch ein Neffe und Kommentator Wassily Kandinskys, der in der Kunst das Potenzial und das Mittel sah, individuelles Bewusstsein zu beeinflussen und die Menschheit zu einer neuen universellen Ordnung zu führen.
Dieser Traum der Avantgarde ist in unserer heutigen Kunstwelt nicht völlig aufgegeben worden. Häufig wird behauptet, die zeitgenössische Kunst sei völlig kommerzialisiert und das Kunstwerk sei reine Ware geworden. Das ist jedoch nur zum Teil richtig. Aktuelle internationale Ausstellungen, Biennalen und Events wie die documenta oder die Manifesta richten sich vornehmlich an ein allgemeines Publikum und nicht an Kunstsammler. Und die Ausstellungen werden von ihren Kuratoren als Vehikel aufgefasst, um im Namen der internationalen Kunst gewisse universale Botschaften auszusenden. So gesehen agieren die Kuratoren als Beauftragte und Agenten eines nicht existenten, universellen und homogenen „Staates“. Und deshalb sollte sich die Kunstwelt nicht für ihre bürokratischen Strukturen und Institutionen schämen, die einen solchen öffentlichen Appell kanalisieren. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, an einen Slogan zu erinnern, der von einer der frühen Anarchistengenerationen geprägt wurde: Anarchie ist die Mutter der Ordnung.
¹ Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europeaeum, Berlin 2011, S. 14ff.
² Georges Bataille, „Der verfemte Teil“, in: Das theoretische Werk I. Die Aufhebung der Ökonomie, München 1975, S. 44–45.
³ Alexandre Kojève, Hegel, eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main 1984.
BORIS GROYS ist Philosoph, Essayist, Kunstkritiker, Medientheoretiker und ein international anerkannter Experte der Kunst und Literatur der Sowjet-Ära, insbesondere der Russischen Avantgarde. Er ist Global Distinguished Professor of Russian and Slavic Studies an der New York University, Senior Research Fellow an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und Professor der Philosophie an der European Graduate School/EGS. Als bedeutender Kunsthistoriker und Kritiker hat Boris Groys auch etliche nennenswerte Ausstellungen kuratiert, unter anderem Andrei Monastyrski für den Russischen Pavillon der 54. Biennale di Venezia (2011) und After History: Alexandre Kojève as a Photographer an der BAK Utrecht (2012). Unter den zahlreichen Publikationen von Boris Groys befinden sich Gesamtkunstwerk Stalin: Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion (1988), Das Kommunistische Postskriptum (2006), Art Power (2008) sowie Unter Verdacht: Eine Phänomenologie der Medien (2010). Seine jüngste Publikation ist In the Flow (2016).
ABBILDUNGEN: Sabine Reitmaier, Free to Play/Dota 2 Esports Tournament Frankfurt, 2015