Harry und Sally

åyr/REM KOOLHAAS/HANS ULRICH OBRIST
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åyr Wir haben dieses Gespräch angeregt, um an ein Interview anzuknüpfen, das Sie, Rem Koolhaas, 1998 mit Hans Ulrich Obrist für den Katalog der 1. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst geführt haben. Es war eine Zeit, als Berlin eine dramatische Verwandlung erlebte, und Sie haben von Ihren Projekten in der Stadt gesprochen. Das Interview setzte mit Ihrer Studie aus den frühen 1970er-Jahren an, „The Berlin Wall as Architecture“. Die Installation, die wir für die 9. Berlin Biennale in den KW Institute for Contemporary Art geplant haben, ist in gewisser Hinsicht eine Antwort auf Ideen, die Sie damals diskutiert haben. Wir thematisieren, wie sich, jenseits des architektonischen Archetypus der Mauer, Begriffe wie Zugang, Abtrennung und Schutz strukturell ausbilden; wir rücken von dem klassischen Einsatz der Mauer als trennendem Element ab und verstehen ihr Erbe nuancierter, insofern wir sie als Technologie betrachten, die auch Schutz und Intimität verleiht. Diese unterschiedlichen Vorstellungen im Hinblick auf Mauern scheinen einer Entwicklung zu folgen, die von Ihrer Untersuchung in den frühen 1970ern bis zu einigen Ihrer jüngsten Projekte in Berlin, etwa dem Axel Springer Campus, reicht. Erinnern Sie sich noch, worüber Sie 1998 in dem Interview gesprochen haben?

HANS ULRICH OBRIST Der Katalog der ersten Ausgabe der Berlin Biennale, die Klaus Biesenbach, Nancy Spector und ich kuratierten, war ein subversiver Stadtführer. Wir wollten die Sicht von Rem Koolhaas auf das haben, was seinerzeit in Berlin passierte oder auch nicht passierte. Damals haben Sie Berlin mit einer chinesischen Stadt verglichen und behauptet, dass die Bauentwicklungspläne gescheitert seien und Berlin zu viel Bauvolumen in zu kurzer Zeit produziert habe, als dass irgendeine herkömmliche Sedimentierung hätte stattfinden können. Achtzehn Jahre später drängt sich die Frage auf, ob Berlin wirklich eine chinesische Stadt geworden ist! Hat sich Ihre Sicht bestätigt?

REM KOOLHAAS Ich würde sagen, ja und nein. Ja, was die extrem schnelle Bebauung am Potsdamer Platz anbelangt. Die Anhäufung und Zusammenstellung von Bauvolumina verdankt sich einer Situation, in der sich die Architektinnen und Architekten kaum untereinander verständigten – denn sie waren alle von kommerziellen Interessen getrieben. Dies hat fast überall auf der Welt zu vergleichbaren Ergebnissen geführt, aber ich muss zugeben, dass sich meine Meinung über Hans Stimmann, der zwischen 1991 und 2006 Senatsbaudirektor und Staatssekretär für Planung in Berlin war, seither vollkommen geändert hat. Ich glaube nicht mehr, dass er damals die Kreativität behindert hat, und ich denke eigentlich, dass er, so konservativ und intolerant wie er war, die Stadt im Grunde vor einer Menge Unfug bewahrt hat. Wir haben es hier mit einem dieser Fälle zu tun, in der eine Situation mit einer Theorie besser ist als eine Situation ohne Theorie. Oder anders gesagt, bis zu einem gewissen Grad ist ein strenges und dogmatisches Regime besser, als in allem frei zu sein.

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åyr Halten Sie es für möglich, eine Parallele zwischen der Berliner Mauer und aktuellen digitalen Plattformen zu ziehen, die ja beide Apparate oder Technologien darstellen, die durch den Aufbau räumlicher Hindernisse die Kommunikation intensivieren?

RK Die Mauer intensivierte offenbar die Bedeutung der zwei Seiten – es wurde ein Grund zur Kommunikation geschaffen.

åyr Ihr derzeitiges Bauprojekt, der Axel Springer Campus, ist durch die Abwesenheit von Mauern und durch ein riesiges Atrium definiert, das dort in das Gebäude eingezogen ist, wo einst die Berliner Mauer verlief. Offenheit und Kommunikation werden durch visuelle Verbindung und nicht durch Trennung, nicht durch Wände, erreicht.

RK Was Sie sagen, unterstellt, dass durch eine Wand im Büro die Leute unbedingt wissen wollen, was die Leute auf der anderen Seite tun, aber das ist nicht der Fall. Es handelt sich hier nicht um eine ideologische Situation; es ist eine postideologische Situation. Wände hätten in einem Bürogebäude nicht den geringsten Einfluss auf das Bedürfnis der Menschen, miteinander zu kommunizieren.

åyr Als wir unser Projekt dem kuratorischen Team der 9. Berlin Berlinale das erste Mal vorstellten, haben wir auch über die Mauer als architektonischen Archetyp gesprochen – und dass sie auf gewisse Weise zu Berlins DNA gehört. Das hat ihnen irgendwie Angst gemacht. RK Ich glaube, zurzeit gibt es nichts Konservativeres als die Kunstszene – und dass die Mauer dort, wo sie stand, wirklich nicht hingehörte, ist eines der wenigen Dinge, von denen so gut wie jeder überzeugt ist.

Wir haben es hier mit einem dieser Fälle zu tun, in der eine Situation mit einer Theorie besser ist als eine Situation ohne Theorie.

åyr Es war eine paradoxe Situation für uns, uns auf das Element der Mauer einzulassen, und ich frage mich, ob es Ihnen, auch wenn Ihr Kunde das Gelände ausgewählt hat, mit dem Axel Springer Campus nicht ähnlich ergangen ist. Sie haben sich ja entschieden, in diesem Kontext zu arbeiten, immerhin haben Sie den ursprünglichen Verlauf der Mauer bei der Planung des Gebäudes berücksichtigt. Vielleicht war dies auch eine pragmatische Entscheidung.

RK Ich würde nicht von Pragmatismus sprechen. Es ging dabei wirklich nur darum, mit den Folgen der Deterritorialisierung umzugehen.

HUO Als wir 1998 unser Interview führten, waren Sie gerade von der holländischen Regierung damit beauftragt worden, die Botschaft der Niederlande in Berlin zu bauen, ein wichtiger Auftrag der öffentlichen Hand. Zurzeit haben Sie mehr Aufträge von privater Seite, wie eben den Axel Springer Campus mit s einem Fokus auf das, was Sie als „digitale Boheme“ bezeichnet haben. Es wäre schön, wenn wir mehr über das neue Projekt erfahren könnten.

RK Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, hat uns explizit darum gebeten, das Gebäude auf eine Weise zu gestalten, die einladend wirkt und die digitale Elite dessen, was er „Boheme“ nannte, anspricht. Das ist deshalb interessant, weil in der digitalen Kultur eigentlich so gut wie keine Ortsverbundenheit herrscht. Der Ort verlagert sich fortwährend. Döpfner meinte, er brauche ein Gebäude, in dem die Verlagerungen zum Ausdruck kommen und diese sichtbare Intentionalität als Mittel dienen würde, die besten Leute aus dem betreffenden Feld zu mobilisieren.

åyr Das Springer-Projekt verkörpert für uns ein Berlin, das sich in eine Art europäisches Silicon Valley verwandelt, in einen Ort, wo es eine starke Start-up-Kultur gibt. Versucht das Bauvorhaben diese Gegebenheit hinsichtlich der Gestaltung des Büroraums zu thematisieren?

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RK An Matthias Döpfner schätze ich wirklich sehr, dass er, ein Europäer durch und durch, das Unternehmen in eine digitale Zukunft gesteuert hat – und dies fast ohne Zögern, was recht selten vorkommt. Silicon Valley übt auf die Springer -Leute eine starke Faszination aus, fast schon karikaturhaft. Doch hat man die Silicon- Valley-Kultur nicht einfach pauschal übernommen. So wie ich es sehe, will man dort einen europäischen Gegenentwurf zu den imperialistischen Dimensionen des Silicon Valley definieren und ist damit führend. Die Start-up-Kultur ist per definitionem eine Kultur, die sich in jede Umgebung einnisten kann und sich am meisten in Gebäuden zu Hause fühlt, die nicht neu sind. Unser Bau verfolgt einen europäischen Ansatz. Er ist alles andere als von einer informellen Wohlfühlatmospäre geprägt. In gewissem Sinne ist es ein preußisches Gebäude für das digitale Zeitalter.

åyr Das Springer-Projekt ist eines der wenigen zeitgenössischen Bauvorhaben, das das Digitale nicht nur rein ästhetisch oder technologisch, sondern als „Lebensform“ begreift. Das Gebäude ist in seiner Konzeption stark auf Leute ausgelegt, die immer online in Verbindung stehen. Uns interessiert, inwieweit dies Ihren Entwurf beeinflusst hat. Orientierung, Kommunikation, Erfahrung – all diese Dinge werden durch Geräte verändert, wobei Architektur meist unveränderlich zu sein scheint.

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RK Dieser Gesichtspunkt hat mit Springer absolut nichts zu tun. Vielleicht ist er relevant bei einer Reihe von Projekten, die mit den Universal Studios Headquarters in Los Angeles ihren Anfang nahmen. Hier haben uns zwei Fragen beschäftigt: Wie funktioniert eine hochkomplexe Organisation als Ganzes, ohne dass sie für eine totale Fragmentierung anfällig wird? Und wie geht man mit der Fragmentierungsgefahr um, die jedem digitalen Büro schon deswegen droht, weil heute Fragmentierung nicht von physischer Isolation abhängt? In einem OMA-Projekt für die G-Star Raw Headquartes haben wir zum Beispiel eine ziemliche komplizierte Situation mit gestaffelten Ebenen geschaffen. Mit dem Ergebnis, dass in der gesamten Firma 60 Prozent weniger E-Mails verschickt werden, wie man uns erzählt hat. Das ist für mich ein großes Kompliment, aber es ist auch ein Hinweis darauf, was Architektur heute als potenziell größte Leistung erreichen kann: die Wiedereinführung von Körperlichkeit in diesen endlosen Informationsstrom, der nicht nur unglaublich redundant, unglaublich irritierend und unglaublich erschöpfend ist, sondern auch noch jedem das trügerische Gefühl echter Produktivität verleiht.

åyr Wie ist also Ihrer Meinung nach die administrative oder organisatorische Rolle der Architektur auf digitale Plattformen übergegangen? Kann die Architektur jetzt ein bisschen ungebundener, befreiter agieren? Jetzt, da die digitalen Plattformen ausgereifter sind, ist eine Rückkehr der Materialität zu beobachten – oder genauer, möglich geworden ist die Rückkehr der Mauer, aber einer Mauer, die freundlicher und von bestimmten Aspekten ihrer modernen Gewalt entkleidet ist. In den 1990er-Jahren träumte man in der Architektur von Parametern und sie war dominiert von der Rhetorik der Offenheit, der Unvorhersagbarkeit und der Neuheit. Plötzlich wollen wir das alles gar nicht mehr unbedingt. Es gibt ein stärkeres Interesse an kleinen Räumen, Kabinen, Nischen – höhere Erkennbarkeit, mehr Intimität, eine andere Materialität. Das ist die Genealogie, die wir zeigen – von der „Berliner Mauer als Architektur“ zu der durchbrochenen, gemütlichen Wand der heutigen Bürogestaltung.

Das ist deshalb interessant, weil in der digitalen Kultur eigentlich so gut wie keine Ortsverbundenheit herrscht.

RK Es ist nicht nur, dass Architektur einfach digital wird oder dass wir das Digitale heranziehen können, um interessante Architektur zu machen, die digitale Welt ist eine Welt völlig anderer Abenteuer, anderer konzeptueller, geistiger Räume. Architektur kann sich also womöglich genau darauf konzentrieren, was Sie beschreiben – körperliche und materielle Erfahrungen und die vielfältigen Emotionen, die solche Erfahrungen bieten oder auslösen und die im Cyberspace nicht zu haben sind.

åyr Wir sind skeptisch, was das Chaos als Mittel anbelangt, Unvorhergesehenes zu schaffen – und die Leute zu verleiten, mehr einzukaufen, mehr zu reden und mehr zu kommunizieren. Wir vermuten, dass uns inzwischen vielleicht genug Aufforderungen aus unseren Geräten entgegenspringen und deshalb jetzt eher ruhige Räume gewünscht sind. Erst heute Morgen habe ich auf Facebook gelesen, dass die meisten Videoanzeigen ohne Ton abgespielt werden. Das ist ein neuer Ansatz, der auch auf die Architektur angewendet werden könnte.

Allerdings nicht wie bei Peter Zumthor … [Lacht] Wir denken, dies rührt aus einer gewissen Frustration unserer Generation, die in dem architektonischen Diskurs der späten 1990er und zu Anfang des Jahrtausends aufgewachsen ist, als die kanonischen Architekturwerte der Institutionen und des öffentlichen Raums von der Absicht getragen waren, die Grenzen einzuebnen, aufzumachen und Kommunikation und Sichtbarkeit zu verbessern.

RK Nun ja, es entstehen immer wieder größere Hindernisse, die Sicherheit zum Beispiel. Das bringt einige ernsthafte Widersprüche mit sich: die Ästhetik der Durchgängigkeit und das Sicherheitsdenken der Einkapselung und des Schutzes.

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HUO Ich habe noch eine letzte Frage: In unserem Gespräch 1998 sagten Sie, Berlin sei ziemlich gruselig, da seine Modernität die Stadt exorzieren würde. Ist Berlin auch achtzehn Jahre später noch so schaurig? RK Die Stadt lässt mich überraschend kalt. Sie bringt mich nicht in Rage. åyr Wie halten Sie es mit der Technik? Gehört der Umgang mit Uber, Airbnb oder solchen Sachen zu Ihrem Alltag? Ist das Teil Ihrer Erfahrung, sozusagen Ihrer Identität?

RK Nicht wirklich, denn ich habe dafür eigentlich keinen Bedarf. Vielleicht für Tickets, um Reservierungen vorzunehmen, das natürlich schon. Okay, nächste Frage.

åyr Ganz allgemein. Wie stehen Sie zur zeitgenössischen Kunst? Sind Sie daran interessiert?

RK Ihre Frage ist wirklich irre. Warum fragen Sie das? Das ist doch leeres Gerede. Aber wie dem auch sei, ich halte Ihre Projekt wirklich für interessant, doch wie schon erwähnt, fühle ich mich eher als jemand, der daran teilnimmt, denn als Subjekt.

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um die bearbeitete und zusammengefasste Version zweier Gespräche zwischen Rem Koolhaas, Hans Ulrich Obrist und den Mitgliedern von åyr (Fabrizio Ballabio, Alessandro Bava, Luis Ortega Govela und Octave Perrault), die am 12. Februar 2016 in den Räumen von OMA in Rotterdam und am 21. Februar im Hotel Ambassade in Amsterdam stattfanden.

åyr (ehemals AIRBNB-Pavilion) ist ein Kunstkollektiv aus London. In Ihren Arbeiten beschäftigt åyr sich mit zeitgenössischen Wohnformen. Die Gruppe wurde 2014 von Fabrizio Ballabio, Alessandro Bava, Luis Ortega Govela und Octave Perrault gegründet. Der Anlass war eine Ausstellung, die während der Eröffnungstage der 14. Mostra Internazionale di Architettura in Venedig stattfand. Ort der Ausstellung waren durch eine Website angemietete Wohnungen. Mit Performances, Installationen und Texten untersucht åyr das Verhältnis zwischen Objekten und ihrer Umgebung und die Auswirkungen des Internets auf die Stadt. åyr steht nicht in Verbindung mit Airbnb, Inc. oder irgendeiner anderen Firma oder Partnerfirma der Airbnb group.

REM KOOLHAAS hat OMA (Office for Metropolitan Architecture) 1975 gemeinsam mit Elia und Zoe Zenghelis und Madelon Vriesendorp gegründet. Er studierte an der Architectural Association in London und veröffentlichte 1978 Delirious New York: Ein retroaktives Manifest für Manhattan. 1995 fasste sein Buch S,M,L,XL die Arbeit von OMA in „einem Roman über Architektur“ zusammen. Er leitet die Arbeiten sowohl von OMA als auch von AMO, der Forschungseinrichtung von OMA, die in Bereichen jenseits von Architektur wie zum Beispiel Medien, Politik, erneuerbarer Energie und Mode arbeitet. Koolhaas ist Professor an der Harvard University, wo er das Project on the City leitet. 2014 war er Direktor der 14. Biennale Architettura in Venedig mit dem Titel Fundamentals.

HANS ULRICH OBRIST (* 1968) ist Kurator, Kritiker und Kunsthistoriker. Er ist Codirector of Exhibitions and Programes und Director of International Projects der Serpentine Galleries, London. Obrist ist Autor von The Interview Project, einer umfangreichen, fortlaufenden Serie von Interviews. Er ist Mitherausgeber der Cahier d’art revue.

Abbildungen: åyr, Berlin Feature Wall, 2016; åyr, home is wherever I am with you, 2014, AIRBNB-Pavilion, Instagram; åyr, #my space of reproduction, 2014, AIRBNB-Pavilion, Instagram; OMA, Entwurfskonzept, Renovierung vom Kaufhaus des Westens (KaDeWe); OMA, Innenansicht, Axel Springer Campus; Rem Koolhaas/OMA, Feldforschung, Berlin, 1972