Möglicherweise haben die Klimakriege bereits begonnen. Die Ariditätslinie, die Grenze zur Trockenheit, wird gewöhnlich bei 200 Millimeter Niederschlag im Jahr angesetzt. Alles was darunter liegt, gilt als Wüste. Solche Linien, die eine Grenze zwischen der Wüste und konventionell landwirtschaftlich nutzbaren Flächen markieren, können auf Karten Afrikas, des Nahen Ostens und Zentralasiens gezogen werden. Es sind Linien, die wandern, je nachdem, ob Temperaturen und Verdunstungsraten steigen, und die in den Ländern Eritrea, Somalia, Sudan, Tschad, Niger, Mali, Mauretanien, Senegal, Syrien, Irak, Iran, Afghanistan und Pakistan Ursache für Konflikte aller Art sind. Eyal Weizman bemerkt in The Conflict Shoreline: „Zeichnet man auf metereologischen Karten die Orte ein, an denen westliche Drohnenangriffe erfolgten, zeigt sich eine weitere erstaunliche Übereinstimmung: Viele dieser Angriffspunkte – von Südwasiristan über Nordjemen, Somalia, Mali, Irak, Gaza bis nach Libyen – liegen direkt an oder in der Nähe der 200-Millimeter-Ariditätslinie.“¹
In manchen Gebieten Nordafrikas und des Nahen Ostens versuchten Staaten im Zuge der Modernisierungen des 20. Jahrhunderts die Ariditätslinie mit avancierten Bewässerungs- und Anbaumethoden zurückzudrängen. Da manche dieser Methoden wohl kaum auf Dauer ausgelegt sind, dürfte auch dies zur weiteren Wüstenbildung beitragen. Mitunter ging die Ausweitung der modernen Landwirtschaft auf Kosten der in den Wüsten über Jahrhunderte praktizierten Feldbau- und Weidewirtschaft. So wurden zum Beispiel die Beduinenvölker durch Umsiedlung und Zusammenführung der staatlichen Kontrolle unterworfen.
Die bekannteste Schule historischen Denkens, die auch das Klima mit einbezog, ist die von Fernand Braudel. Für ihn war das Klima eine langfristige, meist stabile und periodische Schicht in der historischen Zeit – eine Position, die ihn eindeutig als europäischen Denker definiert. Diejenigen von uns, die aus der launischeren Welt des Pazifischen Ozeans mit seinem El-Niño-System kommen, werden das Klima nicht unbedingt auf diese Weise betrachten. Braudel war jedenfalls ein Denker des Holozän, für den das Klima sich langsamer veränderte als die historische Zeit. Heute scheint die Situation umgekehrt zu sein und das Klima ändert sich offenbar schneller als die Geschichte.
Wie können wir uns eine Welt vorstellen, in der das Klima sich rasant verändert, die Geschichte hingegen nur langsam fortschreitet? Wie sich zeigt, ist Vergleichbares zuvor schon aufgetreten, zumindest in einem geografisch lokalen Maßstab. Immer wieder gab es in bestimmten geografischen Regionen kleinere Klimaabweichungen, die rasch und mit unguten Folgen vonstatten gingen. Wie sich herausgestellt hat, ist die Spanne der Klimabedingungen, unter denen historische Formen gesellschaftlicher Organisation bestehen können, schmal. Wahrscheinlich werden sich die Phänomene gesellschaftlichen Zerfalls, die wir bereits in vielen Teilen der Welt – entlang der Ariditätslinie zum Beispiel – beobachten können, weiter beschleunigen und ausbreiten.
Für uns, die wir an ein bequemes Leben in der überentwickelten Welt gewohnt sind, lassen sich zwei Möglichkeiten vorstellen, darauf zu reagieren: Wir könnten aufwachen und endlich unsere gesellschaftliche Organisation flexibel genug gestalten, dass sie mit unvorhersehbaren Veränderungen umzugehen und zudem die weitere Aufheizung des Planeten abzuwenden weiß, indem sie weniger Kohlenstoff in die Atmosphäre bläst. Wir könnten uns aber auch wieder schlafen legen, einen großen Schutzwall bauen, uns dahinter verstecken und bewaffnete Drohnen losschicken, die jeden angreifen, der anderes im Sinn hat. So sehr man sich auch wünscht, dass sich die erstgenannte Reaktion durchsetzt, scheint dennoch letztere vorzuherrschen. „Geopolitik der Überwinterung“ ist der Titel eines Essays, der 1962 von der Situationistischen Internationale veröffentlicht wurde. Seine Autoren erachteten Atomschutzbunker als charakteristische Architektur ihrer Zeit und sahen in diesen Bunkertypen den Ausdruck einer wahnsinnig gewordenen militärisch-industriellen Rationalität, die davon ausging, man würde, wenn oben auf der Erde alles in Trümmern läge und radioaktiv verseucht wäre, im Untergrund ein kleinbürgerliches Leben führen können, mit Waschmaschine und Abendessen vor dem Fernseher.
Wie können wir uns eine Welt vorstellen, in der das Klima sich rasant verändert, die Geschichte hingegen nur langsam fortschreitet?
Mag sein, dass diese Überwinterungsfantasien andauern. Wenn die Temperaturen steigen, werden wir mit Mobiltelefon und Latte macchiato in unseren klimatisierten Bunkern leben. Im 20. Jahrhundert hat sich Stalins Staatsdoktrin des „Sozialismus in einem Land“ als monströse Unmöglichkeit erwiesen. Und doch ist die um einiges pathetischere Illusion, wir könnten „Utopia in einem Eigenheim“ erlangen, ein überraschend hartnäckiger Traum. Natürlich ist die Alternativoption nicht ohne Komplikationen. Auf eine Produktionsweise umzustellen, die ohne Kohlenstoffemissionen auskommt, wird alles andere als harmonisch und unproblematisch sein. Es könnte den geopolitischen Niedergang von Staaten einleiten, deren Bedeutung von fossilen Brennstoffen abhängt. Welche Ressourcenkriege hätten wir dann zu erwarten? Vielleicht wird man in Schottland einfallen, um sich dessen Windkraftressourcen unter den Nagel zu reißen. Vielleicht wird man Wu?sten in Besitz nehmen wollen, um dort Solaranlagen aufstellen zu können.
Ob das sogenannte „Ölfördermaximum“ bereits erreicht ist, scheint eine komplizierte Frage zu sein, über die sich die ExpertInnen uneinig sind. Jedenfalls ist noch Öl genug vorhanden, um den Punkt zu erreichen, jenseits dessen das Klima irreparablen Schaden nimmt. Doch welche anderen Rohstoffe gelangen noch an ihre Grenzen? Im Anthropozän wird nicht eine Sache allein der endlosen Ausweitung kommerzialisierter Produktion potenziell Schranken setzen. Vielleicht haben wir schon das „Phosphormaximum“ erreicht und müssen uns erneut darüber Gedanken machen, wie die industrielle Landwirtschaft zu ihrem Dünger kommt.
Für die Umsetzung heutiger Technologien spielen große Bereiche des Periodensystems eine Rolle, und für manche dieser Elemente wird es zunehmend schwieriger, leicht zu erschließende Vorkommen zu finden. Zweifelsohne haben die besten Köpfe des militärisch-industriellen Komplexes all dies genauestens eruiert. Wer weiß, welche Kriege sie bereits vorausgeplant haben, um sich dauerhaften Zugang zu den chemischen Elementen zu sichern.
Die strittige Kategorie des „Flüchtlings“ impliziert, dass die Möglichkeit der Zuflucht besteht – und bald schon wird es eine solche wohl nicht mehr geben.
Ressourcenkriege sind nicht neu. Sie sind ein prägendes Merkmal der Geschichte der Geopolitik. Doch vielleicht weisen die Ressourcenkriege des Anthropozäns neue Besonderheiten auf. Zunächst einmal gibt es keine Grenzen – und damit kein außen mehr. Wir leben nicht länger in einem offenen System, in das Ressourcen von außen hineingezogen werden können und aus dem das Müllchaos anschließend wieder in irgendein Hinterland verbracht werden kann. Im Anthropozän leben wir in einem geschlossenen System, in dem es keine „Umwelt“ mehr gibt, gegen die sich das Gesellschaftliche abdichten könnte. Es gibt keinen gesonderten Ort mehr für einen Bunker.
Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ ist tatsächlich ein Zeichen dafür, dass die Klimakriege begonnen haben und dass es keinen Ort gibt, an dem man sich auf Dauer vor ihnen schützen und überwintern könnte. Die strittige Kategorie des „Flüchtlings“ impliziert, dass die Möglichkeit der Zuflucht besteht – und bald schon wird es eine solche wohl nicht mehr geben. Komplexe, politische, imperiale und militärische Kräfte mögen die naheliegende Ursache sein für die Millionen, die über die Grenzen strömen und versuchen, nach Europa, Amerika oder Australien zu gelangen, aber untergründig ist es eine wachsende Instabilität des Klimas, die die unterschiedlichsten Gesellschaftsformen schon jetzt an einen Punkt bringen, an dem sie sich nicht mehr anpassen können.
Das Problem mit „klein aber schön“ liegt darin, dass es, nun ja, klein ist.
Man könnte hier leicht die Kritik der Situationisten an der Geopolitik der Überwinterung wiederholen und ausweiten. Aber vielleicht gibt es einen anderen Weg. Anstatt lediglich zu kritisieren, dass wir uns in unserer überentwickelten Welt in gemütlichen Eigenheimen verbunkern müssen und geistesabwesend unseren Chardonnay schlürfen, könnte man eher darüber nachdenken, das damit anscheinend erzeugte Sicherheitsgefühl auf andere auszudehnen. Was wäre, wenn jede/r das Recht auf einen sicheren Ort hätte?
Zunächst wäre darüber nachzudenken, was ein sicherer Ort überhaupt bedeuten kann in einer Welt, die durch einen beschleunigten Klimawandel aus den Fugen gerät und an die Grenzen dessen stößt, was sie durch den gedankenlosen Umgang mit Ressourcen zu ertragen in der Lage ist. Ist es überhaupt noch möglich, einen Planeten zu konstruieren, auf dem das Leben bestehen kann?
Allein schon die Idee des Geo-Engineering macht viele Leute nervös – und das zu Recht. Die Unternehmen, die mit ihren Produktionsmethoden einen bewohnbaren Planeten zerstören, schlagen eben dieselben Methoden vor, um seine Rettung zu bewerkstelligen. Bevor sie sich herablassen, auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, verlangen sie natürlich beträchtliche staatliche Förderbeträge. Wir alle werden dafür zahlen müssen, damit noch mehr Profit aus einer Technologie geschlagen werden kann, die beispielsweise Kohlendioxid aus der Luft filtert.
Dass die Alternative darin bestehen könnte, Bambusfahrräder zu fahren und Käse aus der Region zu essen, ist ein Trugschluss. So etwas läuft oft genug auf eine grün gefärbte Version der Bunkermentalität hinaus. In unserer kleinen, geschützten Enklave essen wir alle biologisch angebaute Produkte und tragen Hanfkleider, ohne groß darüber nachzudenken, woher die Ressourcen für ein solches Leben kommen oder wohin die Abfallprodukte gehen. Das Problem mit „klein aber schön“ liegt darin, dass es, nun ja, klein ist. Dinge wie diese lassen sich eben nicht unbedingt auf sieben Milliarden Menschen hochrechnen.
Tatsächlich unterliegt der Planet schon jetzt einem massiven Geo-Engineering. Es gibt keinen ökologischen Kreislauf, aus dem wir uns heraushalten könnten, damit er sich in sein homöostatisches Gleichgewicht und seine ursprüngliche Ordnung zurückbilden kann. Es kann also nicht darum gehen, das Geo-Engineering abzulehnen. Vielmehr stellt sich das Problem, welche Form des Geo-Engineering wir wählen. Gibt es Methoden, mit denen die heutige riesige, globale Infrastruktur qualitativ so umgeformt werden kann, dass sie zu anderen Ergebnissen kommt? Könnte es so etwas wie eine Geophysik – und eben keine Geopolitik – der Überwinterung geben?
Der Planet, der gerade gebaut wird, ist ästhetisch alles andere als ansprechend. Seine Ruinen sind nicht fotogen. Er besitzt viel zu viele Konzentrationslager. Zahllose seiner Behausungen stehen in ungesunden Elendssiedlungen, in denen man eigentlich nicht leben kann. Überall werden Mauern hochgezogen. An jedem Laternenmast hängt eine Überwachungskamera. Und Müllberge an jeder Ecke. Die wenigen Stellen, an denen es noch Schönheit gibt, sind durch die Notwendigkeit verunstaltet, dies alles vor den Blicken abzuschirmen. Aber vielleicht muss man sich, wann immer man sich eines Moments bewusst wird, der sein ästhetisches Versprechen einlöst oder annehmbar scheint, einfach fragen, was erforderlich wäre, um diesen kühlen Schatten nur ein wenig über den eigenen Horizont hinaus auf die ganze Welt auszuweiten.
¹ Eyal Weizman, The Conflict Shoreline: Colonization as Climate Change in the Negev Desert, Göttingen 2015, S. 12.
MCKENZIE WARK veröffentlichte zuletzt Molecular Red (2015) und ist unter anderem Autor von Das Hacker-Manifest (2005), Gamer Theory (2007), 50 Years of Recuperation of the Situationist International (2008) und The Beach Beneath the Street (2011). Er unterrichtet an der New School for Social Research and Eugene Lang College in New York City.
ABBILDUNGEN: Katja Novitskova, Studien, 2016